Warum wir Overlander sind

Weshalb reisen wir als Overlander?

In meiner Rede am Abschiedsapéro anlässlich meiner Pensionierung erläuterte ich nach dem Dank an meine zahlreichen Mitarbeitenden meine Sichtweise auf meine Lebensabschnitte:
Der erste Lebensabschnitt war geprägt von der Jugend, der Schule und dem Studium an der Universität.
Der zweite Lebensabschnitt war geprägt von Erfolg im Beruf. Partnerschaft und Familie.
Der dritte Lebensabschnitt ist geprägt: von der Möglichkeit, Neues zu wagen.
Der vierte Lebensabschnitt kommt ohne eigens Dazutun und mit der Frage: war es das, das Leben, das ich mir gewünscht habe und lebte.

Was nun?

Nachdem ich Batch und Schlüssel der Bank abgegeben habe, trat ich anderntags in ein Benediktinerkloster ein. Ich wollte eine neue, mir unbekannte Welt kennen lernen. Ich nahm Anteil am Leben der Klosterbrüder. Von der «Laudes» (Morgenandacht um 05:30) bis zur Komplet (Abendgebet vor dem Schlafen gehen). Mit Bruder Daniel meditierte ich auch Zazen (stille Meditation im ZEN-Buddhismus). Es war faszinierend, in diese für mich neue Welt einzutauchen.
Unmittelbar nach der Klosterzeit reisten Margit und ich für mehrere Monate nach Island.
Das war der Anfang der Perspektive, dass langsames Reisen als Overlander neue (Lebens-) Räume für uns öffnet. Dies beschreibt unser Reiseblog.

Als Overlander verlassen wir die bekannte und oft bequeme Komfortzone zu Hause: die Familie; den sicheren Alltag; den Freundeskreis; das Dorfleben; die Schweiz, das beste Land mit der höchsten Lebensqualität. All das geben wir temporär auf. Gegen was tauschen wir die Komfortzone ein?

Als langsam Reisende gewinnen wir viel. Der Beruf (kommt von Berufung, Freude an der Tätigkeit) war ein Teil der Identität. Ob ein «Job» das auch bewirkt? Ich habe meine Zweifel. Heutzutage steht die «work-life-balance» im Fokus der Gesellschaft. «Work (Job) – life (Freizeit, persönliche Erfüllung, soziale Beziehungen, emotionales Wohlbefinden, Selbstverwirklichung). Das sind viele Aspekte, die unter einen Hut gebracht werden sollen. Ganz schön stressig.

Ein Teil der neuen Identität ist das Leben des Overlanders. Das «work» fällt weg. Alles, was da wichtig war, tritt in den Hintergrund. Das „work» und das „life“ werden mit neuem Inhalt gefüllt.

Die Selbstverwirklichung im 3. Lebensabschnitt.

Die Freiheit ermöglicht bisher unbekannte Räume und Länder zu erschliessen. Das Feld der Möglichkeiten ist offen. Nicht immer. Es gibt für alles den richtigen Zeitpunkt, Das Zeitfenster nützen wir. Bald kann es zu sein. Wünsche werden konfrontiert mit exogenen Realitäten. Dies können unvorhergesehene, politische Restriktion sein. Ein Militärumsturz, geschlossene Grenzen, kriegerische Auseinandersetzungen, Streiks etc. Dies führt zur Revision der Absicht und erfordert Gelassenheit und anpassen der Vorstellungen und Wünsche. Aber auch die eigene Gesundheit kann einen Strich durch die Rechnung machen. Oder die Abenteuerlust schmilzt dahin wie der Frühlingsschnee an der Sonne. Deshalb ganz nach dem römischen Dichter Horatz: «Carpe diem, quam minimum credula postero.» Zu Deutsch: «Nutze den Tag und vertraue möglichst wenig auf den morgigen Tag.»

Der Wunsch nach Erkenntnis ist ein Urbedürfnis. Humboldt oder Darwin, Magellan oder Cook waren die Vorläufer der Neugierde und des Strebens nach Wissen. Das setzt Sprachkenntnisse voraus. Nicht überall reicht Englisch. Für Südamerika lernen wir Spanisch. Die Mühen werden belohnt mit Lachen und Freude der Latinos, dass wir (versuchen) ihre Sprache zu sprechen.

Der Wunsch nach Abenteuer, Weltreise mit dem Auto, verkörpert Clärenore Stinnes. Sie war die erste Overlanderin. Von 1927–1929 realisierte sie eine spektakuläre Weltreise. Mit ihrem Automobil, einem Horch 8, fuhr sie durch 43 Länder.

Auch heute setzt eine Weltreise mit dem eigenen Fahrzeug gewisse technische Kenntnisse (zumindest ein Werkstatthandbuch und OBD-Analysegerät) voraus. Pannen und Reparaturen können vorkommen. Die Frage nach einer Werkstatt, LPG-Gas, Wasser oder einem sicheren Übernachtungsplatz gehört zum Alltag eines Overlanders. Die Suche nach Lösungen, die es immer gibt, ist das Salz in der Overlander-Suppe.

Das Reisen auf bisher 5 Kontinenten bietet genügend Möglichkeiten in verschiedene Kulturen einzutauchen und zahlreichen Ethnien und ihren Religionen zu begegnen. Sie sind der Spiegel zur Reflexion der eigenen Anschauung, des eigenen Welt- und Menschenbildes und nicht zuletzt der eigenen Identität. Wer bin ich, welche Träume realisiere ich, wo stehe ich auf diesem Planeten. Das führt dazu, dass Vorurteile, Unsicherheiten und Ängste gegenüber Anderem und Unbekanntem reduziert werden.

Die Welt mit dem eigenen Land Rover Defender zu bereisen ist nicht nur im fortgeschrittenen Alter wie wir es sind, eine riesige Bereicherung im Leben. Als Paar und Overlander leben wir 24 Stunden während 7 Tagen auf 6 m2 im Landy oder draussen. Das erfordert Toleranz, Rücksicht und Anpassungsfähigkeit in der Beziehung.

Den Elementen der Natur – wie Wind, Regen, Hitze und brennende Sonne erfordern physische und psychische Belastbarkeit.

Das sind die Rahmenbedingungen ausserhalb der Komfortzone.
Auf der Reise von zu Hause, der Schweiz, nach Indonesien – alles über Land (ausser der Meerenge von Malakka), wurde uns die Dimension und Vielfalt der Erde bewusst, weil wir sie «erfahren» haben. In Afrika, Asien oder Südamerika haben die Menschen eine andere Vorstellung von Lebenssinn, Zeit, Spiritualität und Zusammengehörigkeit als wir in den westlichen Industrieländern.
Diese Reise – und andere unserer Reisen – sind heute aufgrund von Kriegswirren nicht mehr möglich.

Daraus resultiert eine tiefe Dankbarkeit gegenüber dem Erlebten.

Das Ziel des „Reisens“ ist hier nicht nur das Ankommen, sondern das «unterwegs sein», sich Zeit schenken und leben an einem anderen Ort. Das führt zu Begegnungen mit Menschen, die Anteil an ihrem Leben gewähren und uns neue Horizonte eröffnen.

Das Reisen ist eine Philosophie der Lebensgestaltung, der Neugier, des Entdeckens, ohne Komfortzone, die eine Offenheit voraussetzt und in ein reich beschenktes Leben mündet.

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